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IHK-Kammergespräch

Wo sind die Reserven für den Arbeitsmarkt?

IHK_Kammergespraech-WiM-11-22-Foto-Daniel-Karmann © Daniel Karmann

Willkommen in der Dürer-Stadt Nürnberg: IHK Präsident Dr. Armin Zitzmann (l.) und Hauptgeschäftsführer Markus Lötzsch bedankten sich bei Andrea Nahles mit einem Siebdruck.

Andrea Nahles, neue Chefin der Bundesagentur für Arbeit, über Fachkräftemangel und Nachwuchssicherung.

Das 160. Kammergespräch der IHK Nürnberg für Mittelfranken fand nach vielen Jahren des Umbaus und nach der Corona-bedingten Pause erstmalig wieder im "Haus der Wirtschaft" am Nürnberger Hauptmarkt statt. Als Rednerin war Andrea Nahles zu Gast, ihres Zeichens ehemalige Bundesministerin für Arbeit und Soziales und frühere SPD-Parteivorsitzende. Seit Anfang August ist sie Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA) in Nürnberg. Sie hatte gute Nachrichten im Gepäck: In Deutschland gibt es aktuell 34,3 Mio. sozialversicherungspflichtige Beschäftigte – so viele wie noch nie, seit die Statistik geführt wird. "Die Situation am deutschen Arbeitsmarkt hat sich sehr positiv entwickelt", stellte Nahles fest. Als Gründe sieht sie zum einen die Erwerbstätigkeit der Frauen: Hier sei Deutschland inzwischen unter den ersten drei in Europa. Zum anderen wirke sich die Zuwanderung positiv aus, viele Migranten seien in den Arbeitsmarkt integriert worden.

Und die BA-Chefin glaubt, dass die Situation auch in absehbarer Zeit so positiv bleibt – auch bei einer möglichen Rezession. "Seit der Finanzmarktkrise 2008/2009 beobachten wir, dass die Arbeitsmarktsituation von der Wirtschaftsentwicklung entkoppelt ist", so Nahles. Dies sei Folge des demografischen Trends, der Fachkräftemangel rücke dadurch in den Vordergrund. "Kurzfristiges Entlassen und schnell wieder Einstellen ist von gestern." Bei der Frage, wie dieser Fachkräftemangel behoben werden kann, schaut Nahles zunächst nach innen: "Wo können wir noch Fachkräfte mobilisieren?" Eine "große Fachkräftereserve" sieht sie bei den Frauen. Hier seien die geleisteten Stunden unterdurchschnittlich, denn 60 Prozent der erwerbstätigen Frauen arbeiten in Teilzeit. Mit besserer Kita-Betreuung und mehr Homeoffice könne sich etwas verbessern. Dabei seien auch die Betriebe in der Pflicht: Sie müssten mehr tun, damit gut ausgebildete Frauen mehr Stunden arbeiten können und wollen. "Das wird bisher nicht systematisch gemacht."

Weiteres Potenzial sieht die BA-Chefin bei den Langzeitarbeitslosen. Hier gebe es jedoch ein "Mismatch-Problem": Zwar treffen in Mittelfranken 24 000 offene Stellen auf 39 000 Arbeitslose. Aber die Qualifikations- und die Anforderungsprofile passten oft nicht zusammen, erklärte Nahles. Auf eine Helferstelle kämen sechs Arbeitslose. Hier könne das Programm "Sozialer Arbeitsmarkt" aus dem Teilhabechancengesetz helfen, indem es Unternehmen und Arbeitslose mit einem Coach zusammenbringt – bei hundertprozentiger Kostenübernahme. Allerdings helfe das relativ erfolgreiche Programm nicht kurzfristig: "Da braucht es einen langen Atem", sagte Nahles. Vielen Arbeitslosen sei mit Qualifizierung zu helfen, aber andere seien nicht mehr zu erreichen.

Diskussion um das Bürgergeld

In das neue Gesetz zum Bürgergeld sind laut Nahles auch die Erfahrungen der Jobcenter eingeflossen. "Wir haben nach 17 Jahren Hartz IV einiges gelernt." So sei – wie von den Agenturen gefordert – eine Bagatellgrenze eingeführt worden. Außerdem sei der Vermittlungsvorrang jetzt eingeschränkt, stattdessen stehe Qualifizierung im Vordergrund. Die Mitwirkungspflichten der Leistungsbezieher hält Nahles hingegen für notwendig – auch wenn bisher nur drei Prozent der Klienten mit Sanktionen belegt wurden. "Aber für die ist das notwendig. Das darf durch das Bürgergeld nicht verwässert werden." Positiv sieht sie hingegen, dass für Leistungsbezieher dann ein zusätzlicher Verdienst von 30 Prozent statt 20 Prozent ohne Abzüge möglich sei: "Das schafft einen höheren Anreiz, etwas dazuzuverdienen".

Die dritte Zielgruppe sind für Nahles mögliche Azubis. "Beim Einfädeln, wer wo landet, sind wir ziemlich schlecht", stellt die Arbeitsagentur-Chefin fest. So brechen jedes Jahr 28 Prozent aller Studierenden ihr Studium ab – im naturwissenschaftlichen und technischen Bereich sogar 50 Prozent. Doch hier gebe es ein "Fingerhakeln" mit der Hochschulrektorenkonferenz: Während die Berufsberater die Abbrecher in eine duale Ausbildung bringen möchten, versuchen die Career-Services der Hochschulen, diese lieber auf einen anderen Studiengang zu vermitteln. Deshalb will sie mit diesem Problem auf die Kultusministerkonferenz zugehen: "Das akzeptieren wir so nicht mehr."

Während der Corona-Pandemie habe es eine Tendenz zur "Verschulung" gegeben: "Bei den Praktika haben wir es nicht geschafft, wieder auf das Niveau von 2019 zu kommen." Ihre Forderung lautet daher: Berufswahlkompetenz als Pflicht von der
5. Klasse an in allen Schulformen im Lehrplan zu verankern. Dafür müsse kein eigenes Fach geschaffen werden, die Inhalte könnten in bestehende Fächer integriert werden. Zusätzlich will sie die Unternehmen ins Boot holen. Außerdem gebe es ganze Stadtteile, in denen Eltern die Bedeutung der dualen Ausbildung nicht nachvollziehen könnten: "Wir müssen deshalb zunehmend aufsuchende Arbeit machen." Das Bundesbauministerium betreibt bereits ein Quartiers-Management, das zu den Menschen nach Hause kommt und sie betreut. Hier will Nahles ihre Berufsberater mitschicken, um bundesweit in den urbanen Räumen für die duale Ausbildung zu werben.

"Absurdistan" bei Sprachkenntnissen

Und schließlich wendet Nahles bei der Fachkräftegewinnung auch den Blick nach außen: 1,4 Mio. Menschen wandern im Jahr nach Deutschland ein, aber 736 000 aus. "Wenn wir diese Zahl reduziert bekommen, hätten wir einen großen Teil unseres Fachkräfteproblems gelöst", ist sie sich sicher. Schließlich handele es sich dabei vielfach um Menschen, die schon hier angekommen sind, Berufserfahrung haben und schon Deutsch sprechen. "Warum gehen die wieder raus?", fragte die Vorstandsvorsitzende. "Es kommen Menschen, nicht nur Fachkräfte. Und diese Menschen müssen wir integrieren." Stattdessen gebe es große Hürden beim Familiennachzug. "Das ist in Deutschland fast ein Ding der Unmöglichkeit." Außerdem gebe es Probleme bei der Anerkennung beruflicher Qualifikation aus anderen Ländern. "Hier sollten wir mehr auf Kompetenzen schauen statt auf formale Qualifikation", rät sie.

Als regelrechtes "Absurdistan" bezeichnet sie die Regelungen zu den Sprachkenntnissen: Denn das Fachkräfteeinwanderungsgesetz schreibt vor, dass die deutsche Sprache im Herkunftsland erworben werden muss. Das funktioniere aber nur dort, wo es ein Goethe-Institut gibt. "Da erarbeiten wir Vereinbarungen mit Ländern und dort gibt es dann keine Deutschlehrer." Außerdem müssten die Fachkräfte die Sprachkurse meist selbst bezahlen. "Wenn dann Kanada oder die USA ebenfalls vor Ort um Fachkräfte werben, dann landen wir nur auf Platz drei." Schon deshalb, weil fast alle in der Schule Englisch gelernt haben. "Wir müssen deshalb anders vorgehen", fordert sie. Zum Beispiel mit einem Teilerwerb der Sprache vor Ort und der Vertiefung hierzulande. "Wir werden die benötigten Zahlen nicht erreichen, wenn wir diese Hürden nicht abbauen", so ihr Credo. Und dafür wünscht sich die BA-Chefin einen engen Schulterschluss mit den Industrie- und Handelskammern.

Autor/in: 

(leo.)

 

WiM – Wirtschaft in Mittelfranken, Ausgabe 11|2022, Seite 46

 
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