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Nürnbergs Partnerstadt Charkiw

Vom Krieg hart geprüft, aber mit Blick nach vorne

zerstörte Gebäude in Charkiw © Oleg Totskyi/AdobeStock

Trotz der russischen Dauerangriffe bemüht man sich in Charkiw um ein normales Leben. Und plant schon den Wiederaufbau.

Studentenmetropole, Zentrum der IT-Branche, Marktführer der ukrainischen Industrie. Moderne Großstadt mit zwei Mio. Einwohnern. So sah Charkiw vor der umfassenden russischen Invasion aus. Heute ist das anders: Mehr als 6 000 Wohngebäude, mehr als die Hälfte der Universitäten, Schulen, Kindergärten und medizinischen Einrichtungen der Stadt wurden beschädigt. Während der großangelegten Invasion wurden etwa 150 000 Einwohner von Charkiw obdachlos. Und die bisherigen Schäden, die die Russen verursacht haben, belaufen sich bereits auf zehn Mrd. US-Dollar. Und mit jedem weiteren feindlichen Angriff vervielfachen sich diese Verluste.

Doch trotz der anhaltenden Bombenangriffe lebt Charkiw weiter, passt sich den neuen Realitäten an und überwindet Schritt für Schritt die Folgen des Krieges. In den Straßen der Stadt wehen blau-gelbe Flaggen. Im ständigen Einsatz sind Hausmeister, Kommunalbeamte, Polizisten und Retter. Während im Frühjahr 2022 nur etwa 300 000 Einwohner in der Stadt blieben, so sind es heute wieder 1,2 Mio. Menschen. Das Einzige, was heute fehlt, um das normale Leben in Charkiw aufrechtzuerhalten und die Stadtbürger vor Drohnenangriffen zu schützen, sind mehr moderne Flugabwehrsysteme.

Aufgrund der Raketendrohungen sind Kinder in Charkiw gezwungen, in der U-Bahn zu lernen, und die Stadt muss "Untergrundschulen" einrichten. Um im Sommer 2023 eine sichere Offline-Bildung zu organisieren, hat der Stadtrat von Charkiw Klassenzimmer in den U-Bahn-Räumen ausgestattet. Gleichzeitig entsteht in der Stadt die erste eigene "Untergrundschule", die den modernsten regulatorischen Anforderungen an Schutzbauten entspricht und deren Schüler auch bei Luftbedrohungen stationär lernen können. Ähnliche Schulen werden später in allen neun Bezirken der Stadt entstehen. Denn jetzt ist es angesichts der Nähe von Charkiw zur Grenze zur Russischen Föderation die einzig optimale Lösung, um Sicherheit und Vollzeitausbildung zu gewährleisten.

Planungen für den Wiederaufbau

Darüber hinaus wird ein neues Konzept für den "Generalbebauungsplan" der Stadt Charkiw entwickelt. Die Arbeit an diesem Konzept erfolgt im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen der Stadt Charkiw und der Norman Foster Foundation unter der Schirmherrschaft des "UN4UkrainianCities-Projekts" der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa sowie der lokalen Experten und Architekten. Das Abschlussdokument wird die Hauptrichtungen der Entwicklung Charkiws für die nächsten Jahrzehnte festlegen und die Grundlage für den Wiederaufbau nach dem Krieg bilden. Es wird erwartet, dass es noch in diesem Jahr der Öffentlichkeit vorgestellt wird.

Grundlage des neuen "Generalbebauungsplanes" werden fünf Pilotprojekte sein: Industrie, Flüsse, Kulturerbe, Wohnungsbau und Wissenschaftsviertel sowie die Strategie zur Erholung der Wirtschaft Charkiws, die von der Stadt gemeinsam mit Professoren von den Universitäten Oxford und Harvard entwickelt wird. Es entsteht bereits eine neue Vision der Stadt, wie sie nach dem Krieg aussehen wird. Das Hauptziel besteht darin, eine ideale Stadt der Zukunft zu schaffen – eine Traumstadt, in der man leben möchte. Es soll ein Industrie- und Wissenschaftszentrum werden, das für innovative Unternehmen und kreative Industrien attraktiv ist. Charkiw behält sein historisches architektonisches Erscheinungsbild, wird aber gleichzeitig zu einer sehr modernen Metropole. Hightech in allen Bereichen, sichere Gebäude, energiesparende Technologien, komfortabler Straßenverkehr. Selbstverständlich auch Umsetzung zahlreicher Umwelt- und Freizeitprojekte. Es werden Ansätze für die Rekonstruktion historischer Gebäude sowie für die Modernisierung von Industrieanlagen und der bestehenden Plattenbau-Wohnviertel bestimmt, um sicheres und energieeffizientes Wohnen in der Stadt zu schaffen.

Neues Forschungs-Quartier

Das "Science Quarter" soll ein internationaler und lokaler Talentmagnet werden, um Charkiw als Vorreiter in den Bereichen Innovation, Technologie und Städtebau zu positionieren. Für dieses Projekt hat die Stadt einen Bereich gewählt, in dem sich die größte Einkaufszone befindet. Dieses Gebiet und die angrenzenden Territorien werden in ein neues, gemischt genutztes Quartier umgewandelt. Der Markt bleibt bestehen, allerdings in einer modernisierten und kompakten Version. Das Viertel wird sich über etwa 140 Hektar erstrecken und Potenzial für weiteres Wachstum bieten. Das "MIT City Science Team" des "Massachusetts Institute of Technology" (MIT) ist Partner bei diesem Projekt und seine interaktive Design-Plattform "CityScope" wird eingesetzt, um das neue Viertel zu gestalten und dabei die Anwohner einzubeziehen. Vorrang haben auch Projekte, um das Funktionieren der Energieversorgungsunternehmen zu unterstützen, darunter der Bau von Solarkraftwerken auf kommunalen Grundstücken.

Konzept für neuen Industriepark

In der Stadt wurde bereits der Industriepark "Kharkiv Green Energy" ausgewiesen mit einer Gesamtfläche von 80 Hektar und der Möglichkeit einer Erweiterung. Für Produktionsbetriebe, die sich dort ansiedeln, sind zahlreiche Vergünstigungen vorgesehen, u. a. Zoll- und Steuerbefreiungen. Pluspunkte sind die Nähe zu einem Stromversorger, moderne Kommunikationstechnik sowie neue Lager-, Produktions- und Verwaltungsräume. Außerdem sind qualifizierte Arbeitskräfte in der Stadt Charkiw vorhanden. Geplant ist im "Kharkiv Green Energy Industrial Park" zudem der Bau eines Solarkraftwerks mit einer Gesamtleistung von 40 Megawatt. Die dort erzeugte "grüne" elektrische Energie soll in den städtischen Verkehrsnetzen und im Netz neu geschaffener Elektrotankstellen genutzt werden.

Ein weiteres Projekt, um die Energiesicherheit der Stadt zu verbessern, wird vom Energieversorger "Wärmenetze Charkiw" entwickelt: die Installation von zwei Wärmekraftwerken mit einer Leistung von jeweils 50 Megawatt. Derzeit führen technische Spezialisten Beratungen mit internationalen Unternehmen über eine Zusammenarbeit durch. Geplant ist eine modulare Anlage mit Stromerzeugung, Kraft-Wärme-Kopplung sowie kombinierter Erzeugung von Strom und Wärme.

Im Jahr 2023 wurde die Bonität von Charkiw sogar höher als die des ukrainischen Staates bewertet. Die Stadt kommt also auch unter den schwierigen militärischen Bedingungen ihren finanziellen Verpflichtungen gegenüber den Gläubigern nach und ist in der Lage, die Verwaltung und die Grundversorgung für ihre Bürger sicherzustellen. Die Europäische Investitionsbank und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung beabsichtigen weiterhin, den Bau neuer U-Bahn-Stationen und einer unterirdischen Elektrizitätsanlage sowie den Kauf von neuen U-Bahnen und Elektrobussen zu finanzieren. Charkiw bleibt also trotz des Krieges eine Stadt, die für Partnerschaften und Investoren offen ist: vom Wohnungsbau bis zu Projekten im Umweltschutz.

Autor/in: 

Von Oberbürgermeister Ihor Terekhov

 

WiM – Wirtschaft in Mittelfranken, Ausgabe 06|2024, Seite 24

 
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