Besonders geschützt
Schwerbehinderte Arbeitnehmer: Was müssen Arbeitgeber beachten, die Menschen mit Behinderung beschäftigen?
Es gibt zahlreiche Vorschriften im Arbeitsrecht, mit denen (schwer-)behinderte Menschen im Arbeitsleben besonders geschützt werden. Das gilt nicht zuletzt bei Kündigungen. Im Folgenden wesentliche Regelungen, die Arbeitgeber in diesem Rechtsgebiet kennen sollten:
Beschäftigungspflicht: Private und öffentliche Arbeitgeber sind verpflichtet, auf wenigstens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Diese öffentlich-rechtliche Pflicht gemäß § 154 Sozialgesetzbuch IX (SGB) besteht für Arbeitgeber, die im Jahresdurchschnitt monatlich mindestens 20 Arbeitsplätze haben. Diese Regelung bedeutet aber nicht, dass schwerbehinderte Bewerber einen individuellen Anspruch auf Beschäftigung geltend machen können. Wenn Arbeitgeber den vorgeschriebenen Anteil nicht erreichen, müssen sie eine Ausgleichsabgabe entrichten, deren Höhe sich nach § 160 SGB IX richtet. Die Quote kann nur mit anerkannten Schwerbehinderten oder mit Menschen erfüllt werden, die ihnen laut Sozialgesetzbuch gleichgestellt sind. Auch ein teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer, der wenigstens 18 Stunden in der Woche beschäftigt ist, wird auf einen Pflichtarbeitsplatz angerechnet.
Melde- und Prüfungspflicht: Die Arbeitgeber müssen prüfen, ob sie freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen besetzen können (§ 164 Abs. 1 S. 1 – 3 SGB IX). Aber auch diese Vorschrift begründet keinen individuellen Anspruch auf Einstellung. Allerdings muss bei jeder Stellenausschreibung die Arbeitsagentur eingeschaltet werden. Denn sonst wird vermutet, dass der Bewerber wegen der Schwerbehinderung benachteiligt wird, was entsprechende Entschädigungsansprüche aus dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) auslösen kann. Diese Vermutung kann der Arbeitgeber im Streitfall aber widerlegen.
Stellenausschreibung: Die Stellenausschreibung darf ebenfalls keinen Anlass für eine Diskriminierung bieten, andernfalls drohen dem Arbeitgeber auch deswegen AGG-Klagen. Denn gemäß dem AGG gelten auch Bewerber als Beschäftigte und dürfen nicht diskriminiert werden. Nach der Rechtsprechung ist Bewerber, wer eine Bewerbung eingereicht hat. Wichtiger Aspekt: Selbst wenn der Bewerber objektiv nicht für die ausgeschriebene Stelle geeignet ist oder wenn es seiner Bewerbung an Ernsthaftigkeit fehlt, kann eine AGG-Klage gegen das Unternehmen Erfolg haben. Das hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) mit seinem Urteil vom 19. Mai 2016 klargemacht (Aktenzeichen 8 AZR 470/14). Nur dann, wenn es dem „Bewerber“ ausschließlich um den Erhalt einer Entschädigung geht, handelt er demnach rechtsmissbräuchlich. Das Problem in der Praxis ist jedoch für die Unternehmen, dass dies äußerst schwer nachzuweisen ist.
Unzulässige Fragen im Bewerbungsverfahren: Als (schwer-)behinderter Mensch ist man im Vorstellungsgespräch bzw. in anderen Phasen des Bewerbungsverfahrens nicht verpflichtet, eine Frage nach der Schwerbehinderung zu beantworten. Das bedeutet auch, dass man solche unzulässigen Fragen unrichtig beantworten darf („Recht zur Lüge“).
In den ersten sechs Monaten der Beschäftigung genießen schwerbehinderte Mitarbeiter keine besonderen Vorrechte, was den Kündigungsschutz angeht. Deshalb darf der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auch in dieser Zeit nicht fragen, ob eine Behinderung vorliegt. Erst danach hat der Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse daran, zu erfahren, ob er dem Arbeitnehmer Sonderrechte wie etwa Zusatzurlaub oder eine verkürzte Arbeitszeit einräumen muss (Urteil des BAG vom 16. Februar 2012, Aktenzeichen 6 AZR 553/10). Eine Ausnahme während der ersten sechs Monate besteht jedoch, wenn der Arbeitgeber zur Vorbereitung von betriebsbedingten Kündigungen nach der Eigenschaft als Schwerbehinderter fragt.
Verbot der Benachteiligung: Das AGG enthält ein weitreichendes Verbot der Benachteiligung behinderter Menschen (§ 7 Abs. 1 i.V.m. § 1 AGG). Es gilt nicht nur für Schwerbehinderte oder ihnen gleichgestellte Menschen, sondern umfasst Behinderungen gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX: Als Menschen mit Behinderungen gelten demnach Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate daran hindern können, gleichberechtigt an der Gesellschaft teilzuhaben. Das AGG erlaubt bei Behinderten eine unterschiedliche Behandlung gegenüber nichtbehinderten Personen, wenn in der Praxis durch die Behinderung wesentliche und entscheidende Anforderungen der Stelle nicht erfüllt werden können (§ 8 Abs. 1 AGG).
Wichtig ist auch, dass das AGG eine Umkehr der Beweislast vorsieht: Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien vorlegt, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass sie nicht gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung verstoßen hat. Bei einem Verstoß gegen das AGG können Ansprüche auf Schadensersatz (gem. § 15 Abs. 1 AGG, verschuldensabhängig), aber auch Entschädigungsansprüche (§ 15 Abs. 2 AGG, unabhängig vom Verschulden) in Betracht kommen.
Zusatzurlaub: Schwerbehinderte Menschen haben Anspruch auf einen bezahlten zusätzlichen Urlaub von fünf Arbeitstagen im Urlaubsjahr. Verteilt sich die regelmäßige Arbeitszeit des schwerbehinderten Menschen auf mehr oder weniger als fünf Arbeitstage in der Kalenderwoche, erhöht oder vermindert sich der Zusatzurlaub entsprechend (§ 208 SGB IX). Gleichgestellte Personen haben jedoch keinen derartigen Anspruch auf zusätzlichen Urlaub.
Betriebsbedingte Kündigung: Stehen betriebsbedingte Kündigungen an, dann muss der Arbeitgeber in der Sozialauswahl die Schwerbehinderung neben Faktoren wie Dauer der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter und Unterhaltspflichten berücksichtigen (§ 1 Abs. 3 Kündigungsschutzgesetz KSchG). Hier sind auch Personen zu beachten, die Schwerbehinderten gleichgestellt sind. Der Schwerbehinderung kommt aber im Vergleich zu den anderen Faktoren keine überragende Bedeutung zu. Allerdings kann der Arbeitgeber Schwerbehinderte auch aus der Sozialauswahl herausnehmen. Er sieht damit von einer Kündigung der schwerbehinderten Mitarbeiter ab, selbst wenn er damit die Mindestquote für die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen in seinem Betrieb überschreitet.
Kündigung nur mit Zustimmung des Inklusionsamts: Wenn das Arbeitsverhältnis eines schwerbehinderten oder gleichgestellten Menschen gekündigt werden soll, muss der Arbeitgeber vorher die Zustimmung des Inklusionsamtes einholen. Eine Kündigung, die ohne diese Zustimmung ausgesprochen wird, ist unwirksam. Außerdem können die Betroffenen dann möglicherweise Entschädigungsanspruche gemäß dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz geltend machen, so ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 2. Juni 2022 (Aktenzeichen 8 AZR 191/21).
Es gibt folgende Voraussetzungen für den besonderen Schutz bei Kündigungen: Das Arbeitsverhältnis muss mehr als sechs Monate bestehen. Der Nachweis der Schwerbehinderung muss zum Zeitpunkt der Kündigung vorliegen bzw. die Schwerbehinderung ist offenkundig. Der Schutz gilt auch, sollte der Mitarbeiter mindestens drei Wochen vor Zugang der Kündigungserklärung einen Antrag gestellt haben, um die Schwerbehinderteneigenschaft bzw. die Gleichstellung feststellen zu lassen. Es ist nicht erforderlich, dass der Arbeitgeber schon von der Schwerbehinderung Kenntnis hat. Der Arbeitnehmer muss sich jedoch zeitnah darauf berufen, dass er einen besonderen Kündigungsschutz genießt. Laut BAG genügt es, wenn er hierfür die Frist von drei Wochen ab Zugang der Kündigung einhält.
Bei einer ordentlichen Kündigung soll das Inklusionsamt seine Entscheidung innerhalb eines Monats vom Tage des Eingangs des Antrages an treffen. Wenn die Zustimmung des Amts vorliegt, muss der Arbeitgeber spätestens einen Monat nach deren Zustellung die Kündigung aussprechen. Im Falle einer außerordentlichen Kündigung hat das Inklusionsamt seine Entscheidung hingegen innerhalb von zwei Wochen zu treffen. Falls nicht, gilt die Zustimmung als erteilt.
Dennoch kann der Arbeitgeber ein zeitliches Problem bekommen: Denn laut BGB muss er die fristlose Kündigung spätestens zwei Wochen, nachdem er vom eklatanten Fehlverhalten des Mitarbeiters Kenntnis bekommen hat, aussprechen (§ 626 Abs. 2 BGB). Diese Frist wird möglicherweise zusammen mit der Bearbeitungszeit des Inklusionsamtes überschritten. In diesem Fall muss der Arbeitgeber die Kündigung unverzüglich, also ohne schuldhaftes Verzögern, nach der Zustimmung des Inklusionsamtes erklären (§ 174 Abs. 5 SGB IX).
Autor: Rechtsanwalt Prof. Dr. Rolf Otto Seeling ist Fachanwalt für Arbeitsrecht sowie für Handels- und Gesellschaftsrecht sowie Partner bei der Kanzlei Thorwart Rechtsanwälte Steuerberater Wirtschaftsprüfer Partnerschaft mbB in Nürnberg. Jacqueline Stadtelmann ist ebenfalls Fachanwältin für Arbeitsrecht und Rechtsanwältin bei der Kanzlei Thorwart (www.thorwart.de).
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