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In der deutschen Presselandschaft nehmen die bundesweit rund 40 Sozialmagazine und Straßenzeitungen, die von obdachlosen und armen Menschen verkauft werden, eine Sonderstellung ein. Die erste Straßenzeitung „Streetnews“ ging 1989 in New York an den Start. Die Idee dahinter: Obdachlose Menschen stellen eine Zeitschrift her, verkaufen sie auf der Straße und verdienen sich damit ihren Lebensunterhalt. Das Vorbild aus Amerika fand in Europa Nachahmer: 1993 starteten die Straßenzeitungen auch in Deutschland. Sie heißen in Hamburg „Hinz&Kunzt“ oder in München „BISS – Bürger in sozialen Schwierigkeiten“. In Nürnberg kam der „Straßenkreuzer“ 1994 unter der Regie des gleichnamigen Vereins zum ersten Mal heraus. Die Satzung des gemeinnützigen Vereins spricht eine deutliche Sprache: Ziel der Projekte ist es, soziale und wirtschaftliche Hilfen für wohnungs- und obdachlose sowie arme Menschen zu schaffen. „Der Straßenkreuzer macht Armut in Nürnberg sichtbar“, sagt Redaktionsleiterin Alisa Müller.

Monat für Monat greift das Magazin mit seinem dreiköpfigen Redaktionsteam Geschichten von oder über armutsbetroffene Menschen auf. Man wolle Menschen am Rande der Gesellschaft sichtbar machen, betont Müller. Sie unterstützt Betroffene auch in einer Schreibwerkstatt, in der die Teilnehmer den geschliffenen Umgang mit Sprache lernen. Ein weiterer Baustein des Sozialmagazins: Rund 100 Menschen mit Bürgergeldbezug können sich als Verkäufer etwas hinzuverdienen. Der Verein gibt die Hefte für 1,30 Euro an die registrierten Verkäufer ab, diese bieten den Straßenkreuzer an festen Standorten für 2,70 Euro an. Sie tragen einen sichtbaren Ausweis mit Foto und einer Verkäufernummer, die sich auch auf dem Heft wiederfindet. So wird verhindert, dass Dritte das Heft als Vehikel zum Betteln benutzen.

Der Verkauf auf den Straßen in Nürnberg, Fürth und Erlangen ist eine Art Hilfe zur Selbsthilfe. In gewisser Weise ist ökonomisches Denken und unternehmerisches Planen gefragt, die Verkäufer müssen das Geschäft an ihren Stammplätzen gut einschätzen. „Unsere Verkäufer müssen wirtschaftlich denken. Wir nehmen unverkaufte Exemplare nicht zurück“, sagt Slavistin Müller, die gerade ihre sprachwissenschaftliche Doktorarbeit über Schilder im öffentlichen Raum abgeschlossen hat. Um sich an den tatsächlichen Absatz heranzutasten, decken sich manche vorsichtig mit zehn Exemplaren ein. Es kommt aber auch vor, dass jemand mit 100 Magazinen loszieht. Der Verkauf der insgesamt elf Ausgaben im Jahr ist zudem saisonalen Schwankungen unterworfen. Im Dezember ist oftmals der beste Monat, auch weil es dann die eigens produzierte Straßenkreuzer-CD gibt. Der Januar fällt dagegen ziemlich schwach aus.

Magazin mit Brückenfunktion

„Der Straßenkreuzer schafft für unsere Verkäufer eine Brückenfunktion“, führt Müller weiter aus. Er erlaubt es den obdachlosen oder armen Menschen, sich etwas hinzuzuverdienen, selbst wenn das eigene Geld auf das Bürgergeld angerechnet wird. Es gebe aber auch Verkäufer, die ihren Anspruch auf Sozialleistungen gar nicht geltend machen wollen. Zudem entstehen beim Verkauf auch Kontakte: An Stammplätzen gibt es auch Stammkunden, die ein paar freundliche Worte wechseln, was zu Bekanntschaften oder gar Freundschaften führt. Das stärkt das eigene Selbstbild, auch wenn das nicht die Regel ist. „Die Stadtgesellschaft schaut teils bewusst weg – nach dem Motto: ‚Was ich nicht sehe, kann mir nicht passieren‘“, so die Redaktionsleiterin.

Dabei seien es oft Schicksalsschläge, die Menschen aus der Bahn werfen. Das kann eine Trennung oder ein Jobverlust sein, nur dass vielleicht alles auf einmal kommt und der falsche Tröster Alkohol die Abwärtsspirale noch befördert. Wenn man dann ohne soziales Netzwerk ist und die eigenen Angelegenheiten vernachlässigt, befindet man sich schnell auf der Straße. Müller illustriert solche Lebensverläufe auch am Beispiel eines erfolgreichen Vertrieblers, der sich von einem Unfall mit einem Geisterfahrer nie erholt hat und sich bis heute in kein Auto mehr setzt. Biografien wie diese sieht man einem Straßenkreuzer-Verkäufer nicht an. 

In den über 30 Jahren Vereinsarbeit ist es gelungen, der Armut im Großraum immer wieder ein Gesicht zu geben. Noch in den ersten Ausgaben wurden Verkäufer, über die berichtet wurde, nur gezeichnet. Man wollte die armen Menschen nicht noch bloßstellen. Das ist heute ganz anders: Verkäufer prangen auf dem Titelfoto oder berichten von ihren Erlebnissen und lassen sich fotografieren. Damit setzen sie der vermeintlichen Stigmatisierung durch Armut eine positive Erfahrung entgegen. Man wisse, wie man ohne Lohn leben kann, deswegen müsse man sich nicht verstecken. Zum 20. Vereinsjubiläum ließen sich 20 Menschen überlebensgroß für die Bilderausstellung „Gelandet – Verkäufer Träumer Bilder“ ablichten. Dafür wurden sie in Traumwelten inszeniert, als Musiker mit bewundernden Fans oder als reicher Mann im Hotel mit Geldkoffer, Champagner
und Bodyguard.

Perspektivenwechsel durch Betroffene

Manche Verkäufer bieten auch alternative Stadtrundgänge in Nürnberg an. Unter der Überschrift „SchichtWechsel“ führen sie nicht zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt, sondern thematisieren ihren Blick auf wichtige Einrichtungen und
Institutionen. Sie wissen, was es bedeutet, arm, obdachlos oder drogensüchtig zu sein und berichten in ihren Touren vom Leben auf der Straße, von Drogensucht und Prävention oder von der Situation der Frauen. Ende Januar ging turnusmäßig das Wintersemester der „Straßenkreuzer-Uni“ zu Ende. Seit 15 Jahren bietet der Verein kostenlose Bildungsangebote für alle. Die Idee dahinter: Experten oder ausgewiesene Praktiker berichten für Arme oder einsame Menschen, die oft keinen oder nur einen schlechten Zugang zu Bildung haben, aus ihrem Fachgebiet oder gewähren einen Einblick ins Brauen, Kaffeerösten oder in einen Kinderbuchverlag.

Nachdem für das Pfandflaschen-Sammlungsprojekt zwei ehemals arme oder obdachlose Verkäufer festangestellt wurden, ist „Housing First“ das jüngste Projekt des Vereins. Das beim Straßenkreuzer angesiedelte Pilotprojekt will gemeinsam mit den Nürnberger Vereinen Mudra, Lilith und Hängematte auf dem engen Wohnungsmarkt auch die Obdachlosigkeit besser bekämpfen. Das Konzept „Housing First“ basiert auf der Idee, dass Obdachlose zuerst bedingungslos eine dauerhafte Wohnung erhalten, bevor andere Probleme angegangen werden. Hierfür werden rund 20 Wohnungen vermittelt, davon etwa die Hälfte von privaten Vermietern. Die Aufgaben gehen Müller, die im letzten Jahr ihre langjährige Vorgängerin Ilse Weiß beerbte, nicht aus. Der Verein kämpft bei seinem Magazin wie alle Printmedien mit den gestiegenen Produktionskosten. Außerdem muss auch eine Antwort auf das Thema digitale Ausgaben und digitales Bezahlen gefunden werden. Denn der analoge Verkauf ist ein zentraler Zweck des Hefts, der bei Kauf und Bezahlung per Mausklick wegfiele. Und nicht zuletzt benötigt der Verein weiterhin viele Spenden. 

www.strassenkreuzer.info

Autor: Thomas Tjiang

Webcode: N1060